Zeichnung

Ausstellungseröffnung Ralf Bittner: „Natur – Foto + Zeichen (auch mit Hölderlin)“

Thomas Warndorf


„Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, so nennt Jean Jaques Rousseau im Jahr 1778 in einer Schrift seine Gedanken über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Den Menschen, der eins ist mit der Natur, sagt Rousseau, der Mensch, der die Herrschaft der Natur anerkennt, diesen Menschen gibt es nicht mehr. Er hat sich die Natur untertan gemacht, er hat ihr den Charakter genommen, sich ihr entfremdet und er redet sich das zivilisatorische Endprodukt dieser langsamen über Jahrhunderte andauernden Zerstörung als „Kulturlandschaft“ schön. In dieser Kulturlandschaft, weit weg von aller Natürlichkeit hat sich der Mensch mitentfremdet, er ist so weit von seinem eigentlichen Wesen entfernt, wie die Natur von der Kulturlandschaft. Wenn er sein Wesen wiederfinden will, sagt Rousseau, dann muss der Mensch zurück zur Natur. Nur, wie soll das noch gehen?

Die Romantiker des 18. Jahrhunderts knüpfen an Rousseaus Träumereien an. Freilich ahnen sie, dass es dieses „zurück“ kaum noch geben wird. Das Verbrechen an der Natur ist nicht mehr heilbar, die Vertreibung aus dem Paradies ist abgeschlossen. Aber man kann sich doch danach sehnen, davon träumen, von einem fernen Arkadien, auch in Zeiten der Aufklärung. 1799 erscheint von Friedrich Hölderlin in zwei Bänden ein Roman, der dieses romantische Sehnen – und alle damit verbundene Tragik – beschreibt 1). Hölderlins Held Hyperion, ganz im Sinne Rousseaus und seiner Träumereien eines einsamen Spaziergängers, zieht sich in die Einsamkeit zurück, tief enttäuscht von der realen Welt, die voll ist von Krieg, Hass und Zwang. Als Eremit entdeckt er in Griechenland, eben jenem seit der Schäferdichtung der Renaissancezeit erträumten Arkadien, die Schönheit einer unberührten Natur und entflieht im Alleinsein allem gesellschaftlichen Zwang, den wir als Zivilisation bezeichnen. Das versteht Hölderlin aber nicht als hilflose Flucht aus der Realität, sondern als eine bewusste Hinwendung zu einer aufmerksamen Naturbetrachtung.

Darin erst, sagt Hölderlin, in der einer bewussten Betrachtung der Natur, findet der Mensch sich wieder – und dann besitzt er auch die Kraft, ihre Zerstörung zu sehen. Innerhalb des Hyperion findet sich Hölderlins wohl berühmtestes Gedicht – da können auch unzählige Abiturienten mitsprechen – Hyperions Schicksalslied. Und das wiederum hat den großen Romantiker Johannes Brahms zu einem seiner bekanntesten Werke geführt. Brahms Schicksalslied basiert auf dem Hyperion-Text, dem er freilich einen hoffnungsvolleren Ton gibt als Hölderlin es tat. Ganz der Romantiker führt das Lied von Brahms den Menschen in den Himmel, bei Hölderlin endet er, der Mensch, im Grab. „hyperion“, das ist auch der Titel einer der gezeigten Arbeiten (Nr. 6) aus dem gleichen Kontext die Nr. 10 „bellarmin“, der treue Freund Hyperions in Hölderlins Roman.

Zeichnung
Bellarmin

In dieses Gedankengebäude, dessen zentrale Frage das Verhältnis zwischen Mensch und Natur behandelt, darin sind die hier ausgestellten Arbeiten Ralf Bittners letztendlich einzuordnen. Nicht dass Ralf Bittner Hölderlins Lyrik interpretieren wollte, nicht dass er Rousseau auslotet, nein das nicht, es stehen ja auch nicht alle der hier gezeigten Arbeiten im entsprechenden Kontext. Bittner kann sich auch ohne Hölderlin mit dem Thema Natur befassen. Aber: so wie Rousseaus oder Hölderlins Naturempfinden zum Schreiben führte, so wie Brahms aus seinem Naturverständnis Musik entstehen ließ, so ist aus Ralf Bittnersindividueller Naturbetrachtung diese Ausstellung entstanden. Und: dies ist mein Empfinden: Träumereien eines einsamen Spaziergängers sind diese Arbeiten allemal, Gedanken mit Bildern und Zeichen gefüllt.

Ralf Bittner bietet in 14 Arbeiten eine Möglichkeit der bewussten Naturbetrachtung. Sie sind auch Reflektionen seiner Waldspaziergänge. Ralf Bittner ist gerne in der Natur, im Wald, er sammelt Pilze und er sammelt Gefühle, Emotionen, Sichtweisen, ohne sich im Ergebnis dem schönen Schein der Romantik zu ergeben. Denn was er sieht, was er in seine Arbeiten überträgt, was er verarbeitet, das sind ja nicht zuletzt die Verluste, die der Mensch der Natur zugefügt hat. Die sehnsüchtigen Gefühle, die diese Bilder auszulösen vermögen, stammen aus der Erkenntnis des Betrachters, dass nichts mehr so ist, wie es war. Eichen, die sich hoch oben wie ein Kirchenschiff zusammenfügen, da wirkt Bittners Naturbetrachtung wie ein Zitat aus alter Zeit – und er bleibt zugleich ungeheuer aktuell. Eine zerbrechliche Natur, vergänglich, dahinschwebend wie Wolkenbilder, unsere eigenen Bilder der Natur, setzen sich fest in den Arbeiten von Ralf Bittner und man wünscht sich: ja so schön soll sie sein, die Natur und man weiß genau: so schön ist sie nicht. Natur, sie ist nur schön, wenn sie selbst dies will, nicht, wenn der Mensch sie schön macht. Eine Aussage, der im Übrigen jeder Gartengestalter aufs heftigste widersprechen würde.

Fotografie
some dreams

Wie immer auch, Ralf Bittner packt alle Zweifel an einer schönen Natur in seine Arbeiten, macht sie ästhetisch schön, putzt sie auf, lässt Stimmung und Gefühl aufkommen – und sorgt zugleich für die bittere Erkenntnis: das nimmt man ja eigentlich alles gar nicht mehr wahr. Es ist ja nichts spektakuläres, was er uns zeigt. Wir erleben doch Natur gar nicht mehr dort, wo sie noch unverfälscht ist (falls es das überhaupt gibt), sondern gebrochen, verpixelt als I-Phone-Video oder als Naturkatastrophe in der Tagesschau. Schlammlawinen, Hochwasser, brennende Wälder, Vulkanausbrüche. Natur als zerstörerisches Spektakel, als „Rache“ – das ist doch eigentlich unser spontanes Verständnis und Ralf Bittner weist uns auf unser Verständnis hin, ohne den Zeigefinger der politgrünen Basis zu heben – führt uns eine andere Natur vor, vielleicht jene, die es gibt, wenn es den Menschen nicht gäbe, mit den ihm eigenen malerischen und drucktechnischen Mitteln.

Wasser, Luft, Wind, Wald, Himmel, Wolken, die Elemente der Natur, werden von ihm reduziert, sind sparsame Zeichen, müssen vom Betrachter erforscht, entdeckt, wiedererkannt werden. Eigene Erinnerungen müssen gesucht werden, das Betrachten dieser Arbeiten funktioniert fast wie ein Abgleich eigener Gefühle mit Wirkung und Ausstrahlung des Bittnerschen Werks. Es ist auch eine Gelassenheit Bittners, die sich durchgehend niederschlägt. Träumen heißt ja auch, die Realität nicht ändern zu können. Aber hinter der natürlichen Erscheinung – im wahrsten Sinn des Wortes gemeint – hinter der bildhaften Erscheinung einen anderen Sinnzusammenhang zu finden, eben jene Frage des Verhältnisses von Natur und Mensch, da führt Bittner uns dann über die Träumerei hinaus.

Oder wie es der Buchautor Henry Makowski in einer Arbeit über die menschliche Haltung zur Natur bemerkt: Mit der Natur kann man keinen Friedensvertrag schließen. Man kann ihr keine vertraglichen Bedingungen stellen. Sie ist zuerst da 2). Oder wie Rousseau mit aller Bestimmtheit feststellt. Es gibt kein Recht des Stärkeren, die dem der Mensch die Manipulation der Natur rechtfertigen kann.

Ein wenig wirken Bittners naturhafte Darstellungen wie Ideallandschaften. Eine Künstlichkeit der Stimmung, die zur Überzeugung führen könnte, es existiere doch eine Utopie, vergangenes wieder zurückzuholen in die Gegenwart. Eine Verführung, der man sich fast nicht entziehen kann, bis man herausfindet, Bittners Arbeiten sind auch ein Spiel, er gibt sich nicht dem romantischen Gefühl hin, er nutzt es eher fast mit einem ironischen Unterton: So leicht lässt du dich also verführen, mein lieber Betrachter. „Niemand weiß“, ist der Titel eines Bildes (Nr. 8) und so ist das auch ein wenig mit dem Betrachten: Was meint er denn nun, der Ralf Bittner?

zeichnung
und niemand (weiss)

Ja, man muss schon mehr sehen bei ihm als ästhetische Schönheit, gediegene Einsamkeit wie auf „schmaler Erde“ (Nr. 4) und wo man Waldesrauschen zu hören meint in seinen Bildern, steht schon der Holzfäller bereit, um die Eichen zu fällen und zu vermarkten. Ralf Bittner verfremdet, schafft Unschärfe, die ins Unterbewusstsein eindringt und setzt einen Prozess in Gang, aus einer ironischen Melancholie heraus wie in einem Labyrinth aus Bildern und Zeichen zu einer Realität, zu einem eigenen Verständnis von Natur zu kommen.

Verschlüsseltes zu dechiffrieren: Da kommt dann Rousseau wieder ins Spiel: Verstehe die Natur, dann versteht du dich selbst. Dann weißt du dass du Teil der Natur bist und nicht ihr Herrscher. Sagt Rousseau – und so denke ich – sagt Ralf Bittner. So erscheint es nur allzu berechtigt, dass in Bittners Natur der Mensch nirgends auftaucht. Natur ohne Mensch- das funktioniert gut. Umgekehrt jedoch nicht. Und doch heißt Bittners Fragestellung: Wer bin ich? Der Künstler Ralf Bittner fragt sich das und nicht weniger sollte es der Betrachter seiner Arbeiten tun.

Es sind erdhafte Bilder, die Ralf Bittner zeigt, erdige Farben, Brauntöne, Grün und das Blau von Himmel und Wasser. Die Farben helfen, unsere Bildempfindungen zu steuern. Bis zu dem Augenblick, da wir vor schwarzer Fläche stehen wie bei „hyperion“. Strenge, fast hastige Striche, schwebende Gebilde im dunklen Raum, wie für Augenblicke nur sichtbar, empfindlich, dünnhäutig. Ein Gedanke, eine Augenblickseingebung führt die Hand, bleibt in strenger Gerade und paralleler Gestaltung. Zeichen im Raum, kurze Notizen einer Emotion. Darin sind diese Arbeiten auf schwarzem Grund anders als die Landschaften, denen eher Ruhe und Zeitlosigkeit innewohnt.

Ruhelos, wie gehetzt „Strohstrom“ (Nr. 9), heftig strichig, dennoch in der Horizontalen in eine gewisse Schichtung geordnet. Eine rote Linie von links unten quer nach oben ansteigend immerhin beruhigt, weil der Blick folgen kann, zugleich aber zur Frage führt, was ist das? Was liegt da darunter? Da lächelt Ralf Bittner und sagt, da ist ein Foto. Die Frage bleibt: was war der Ursprung? Fragen, die Ralf Bittner dem Betrachter seiner Arbeiten immer wieder aufs Neue stellt. Gleichwohl, auch diese Arbeiten mit ihren Übermalungen mit Pastell- oder Ölkreide, bleiben Themen der Natur, die sich hier jedoch stärker verbirgt, wieder gefunden werden soll, schwieriger zu enträtseln ist. Was steckt dahinter, wo geht das hin. „hyperion“ schließlich: doch eine zentrale Arbeit in dieser Ausstellung: da schweben Gedankenbruchstücke aus der Weite des Raums heran. Aus dem All, das alles gleichermaßen umfasst und bestimmt, Natur und Mensch.

Share This: